Die Schriftstellerin Alice Munro im Jahr 2013
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Die Schriftstellerin Alice Munro im Jahr 2013

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Königin der Kurzgeschichte: Zum Tod von Alice Munro

Ihre Erzählungen zeichnet eine Neugier aufs Leben aus. Auch deswegen wurde Alice Munro für ihre Kurzgeschichten weltweit verehrt. Nun ist kanadische Literaturnobelpreisträgerin im Alter von 92 Jahren gestorben.

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Vom Booker Prize bis hin zum Nobelpreis hat sie alles erhalten – und doch ist Alice Munro bis zu ihrem Tod an diesem Montag immer ein Ausbund an Bescheidenheit geblieben. In einem frühen Radio-Interview mit dem kanadischen Sender CBC sagte sie einmal: "Ich stehe meinem Erfolg etwas ungläubig gegenüber. Ich traue ihm nicht so recht. Und ich denke nicht viel über ihn nach. Auch wenn es undankbar klingen mag: Ich denke weitaus eher an die nächste, noch vor mir liegende Geschichte als darüber nach, warum den Leuten gefällt, was sie lesen."

Denn mit dem Schreiben sei es nicht so, "dass man es eines Tages kann und dann beherrscht. Die Arbeit fällt einem selbst nach vielen Jahren nicht leichter. Es ist wie beim Eiskunstlauf. Wenn dir heute eine schöne Drehung gelingt, heißt das nicht, dass du’s auch morgen schaffst. Ich will damit nur sagen: Dass einem Geschichten gelingen, ist Glückssache".

Mit fast 40 Jahren legte Munro ihr Debüt vorlegte

Die Kanadierin galt als die Königin der Kurzgeschichte, mit meisterhaften Bänden wie "Was ich dir schon immer sagen wollte" (1974) oder "Liebes Leben" (2013). Ihr Kollege John Updike sagte über sie zeitlebens, Alice Munro sei die legitime Nachfolgerin von Anton Tschechow. Ihre Landsfrau Margaret Atwood nennt sie "eine Heilige der internationalen Literatur".

Sie selbst, Mutter dreier Töchter, die als Hausfrau zu schreiben begann und 1968 mit fast 40 Jahren ihr Debüt vorlegte ("Tanz der seligen Geister"), sprach lieber darüber, dass sie "das Leben in all seinen Erscheinungsformen" fasziniert: "Dieses Interesse ist es, was ich niemals zu verlieren hoffe. Ein tiefgreifendes Interesse am Leben. Würde das verschwinden, wäre es vorbei, das wäre furchtbar. Natürlich sind mir auch andere Dinge wichtig, v.a. die Liebe und Nähe einzelner Menschen, aber was mich wohl am stärksten am Leben hält, ist dieses Interesse an allem und jedem."

Pornos in der Selbsthilfegruppe

Diese Neugier aufs Leben zeichnet alle Erzählungen Munros aus – und egal, ob sie kurz nach dem Krieg oder in den 70er Jahren spielen, ganz gleich, ob verschüchterte Haushaltshilfen oder exaltierte Hippie-Mädchen darin auftauchen: Diese Geschichten sind von zeitloser Gültigkeit, weil sie uns zeigen, wie wir das Leben immer schon hauptsächlich verbringen, nämlich "ratlos rudernd", so heißt es in einer dieser starken Stories. Nehmen wir "Gedenken": Ein 17-jähriger Junge stirbt bei einem Autounfall, die Familie versammelt sich, um zu trauern, und der alte Konflikt zwischen seiner Mutter und seiner Tante bricht wieder auf. June, die eine der beiden Schwestern, versucht den Tod ihres Sohnes mit Geschäftigkeit von sich fernzuhalten. Die andere, Eileen, lässt sich betrunken auf Sex mit ihrem Schwager Ewart ein.

Sie ist es auch, die weiß, dass sich die Eltern des Verstorbenen, Mitglieder der Unitarischen Kirche, gemeinsam mit anderen Paaren in einer Selbsthilfegruppe Pornos ansehen, um "neue Stimulanzien auszuprobieren". Wer so etwas in den frühen 70er-Jahren veröffentlichte, stieß auf heftigen Widerstand, wie Munro berichtet: "Als meine ersten Erzählungen erschienen, war das ein regelrechter Schock für viele Menschen in meiner Umgebung. Man verstand einfach nicht, warum man so schrieb wie ich es tat." Nur einen einzigen Roman hat Munro im Laufe ihres langen Lebens veröffentlicht: "Kleine Aussichten" (1971) – selbst diesen betrachtet die Jubilarin eher als eine "Sammlung zusammenhängender Geschichten".

Autorin von höchster Autorität

Zutiefst beeindruckend auch Munros Geschichte "Material". Eine Frau denkt über ihren Ex-Mann nach, mit dem sie zusammen eine Tochter hat. Wider Erwarten ist aus ihm ein Schriftsteller geworden, obwohl sie nie an seine Fähigkeiten glaubte: "Ich glaubte", so die Erzählerin, "dass Schriftsteller ruhige, traurige Menschen waren, die zu viel wussten. Ich glaubte, dass sie etwas an sich hatten, das anders war, eine harte und leuchtende, seltene, einschüchternde Eigenart". "Autorität" besäße man als Autor, lässt Alice Munro diese Figur sagen – ihre Schöpferin besitzt sie ohne Zweifel.

"Ich frage mich oft, was ich so liebe am Schreiben", sinnierte Munro mal: "Ist es die Tatsache, dass man wieder und wieder versucht, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen? Nein, ich glaube nicht. Ich habe in letzter Zeit wieder Dostojewskij gelesen. Er hatte kein allzu gutes Leben, viele Probleme, er war als Mensch kein bewunderungswürdiger Mann. Und doch vermochte er so weit vorzudringen in alle möglichen Bereiche existentieller menschlicher Erfahrung! Genau das scheint mir der beste Weg zu sein, die Zeit zu nutzen, die uns auf Erden gegeben ist", sagte Munro. Nun ist die Literaturnobelpreisträgerin im Alter von 92 Jahren in der Provinz Ontario gestorben.

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